Irgendwann um 1980 hielt der zurecht hoch angesehene Klaus Heitmann einen Gastvortrag in dem großen (und auch zu diesem Anlass eher mittelprächtig gefüllten) Hörsaal des GB-Gebäudes an der Ruhr-Universität. Zu Beginn seiner höflich-nüchternen Einleitung nannte er "Bochum eine Hochburg der deutschen Romanistik". Weil nun bei Heitmann wirklich niemand einen barocken Hang zur Rhetorik der leeren Komplimente entdecken oder auch nur vermuten konnte, freuten wir Bochumer uns über soviel Anerkennung – obwohl die Freude in den Kollegen-Gesprächen sehr verhalten und beinahe ungläubig nachklang.
Denn sich für eine "Hochburg" zu halten, gehörte nicht zu den Selbst-Stilisierungs-Möglichkeiten der damals schon gut zwei Jahrzehnte alten "Neugründung Ruhr-Universität". Solche Exzellenz-Höhen ["avant la lettre", wie man heute im Blick auf Deutschland sagen muss] und die einschlägigen Begriffe vermuteten wir eher in Bielefeld oder Konstanz, voll von Bewunderung für die scheinbar außer Sichtweite geeilten Konkurrenten – oder auch voller Ressentiment. Das ganz andere Bochumer Pathos war der Stolz auf eine hart erarbeitete tägliche Solidität, welche Proletarierkinder auf die Mittelgebirgshöhen und Wanderwege des Geistes führen sollte. "Proletarierkinder" allerdings sagte man kaum noch in jenen Jahren, während eine Sympathie für die sozialen Spuren der Ruhrgebiets-Tradition durchaus präsent geblieben war.
Dreieinhalb Jahrzehnte später bin ich geneigt, dem Eindruck Heitmanns zuzustimmen, vielleicht sogar mit der zuspitzenden These, dass das Bochumer Romanische Seminar von damals eine der letzten Hochburgen am Ende einer ruhmreichen akademischen Geschichte gewesen sein könnte. Durch die Brille des amerikanischen Vor-Ruheständlers von heute gesehen tritt besonders Karl Maurer in den fast jugendlichen Erinnerungen an die Ruhr-Universität hervor. Nicht nur sah ich ihn als den "erstberufenen" Romanisten vor Ort an [was damals wie ein besonderer Ehrentitel wirkte], er war auch der einzige aus unserer kleinen Professorengruppe, der wie selbstverständlich noch als "Voll-Romanist" gelten wollte und durfte. Eine philologische Spezialkompetenz, die breites sprach- und literaturhistorisches Wissen in allen romanischen Sprachen verband, schien ihm fast nicht der Rede wert. Dies galt auch für seine Selbstlosigkeit als Herausgeber der Zeitschrift Poetica [deren Bedeutung wir in typisch Bochumer Kurzsichtigkeit meist unterschätzten] und für die Unbestechlichkeit seines Urteils in Berufungskommissionen und bei Prüfungen. Natürlich konnte sich selbst Karl Maurer irren – und war dann stets der erste, der von solchen "Betriebsunfällen" in aller Deutlichkeit sprach. Aber nicht einmal seine durchaus respektvollen Feinde [und von denen gab es an der Ruhr-Universität nicht wenige] wollten ihm je "persönliche Motive" oder gar "poliitsche Vorurteile" unterstellen, die mit seinen Sach-Urteilen interferiert hätten.
Das Engagement und das Urteil des unbestechlichen Voll-Romanisten Karl Maurer, so will ich heute Heitmanns Bemerkung von der "Hochburg" interpretieren, hatten eine Gruppe von jüngeren Kollegen in Bochum versammelt, deren intellektuelle Faszinationen und "Erkenntnisinteressen" [ein weiteres – eher gehobenes – Wort aus jener Zeit] wahrhaft zentrifugal waren und in jedem einzelnen Fall Optionen auf die Zukunft enthielten [in manchen Fällen auf Zukünfte, die inzwischen längst vergangen sind]. Die Form des Namens von Udo L. Figge zum Beispiel schien mir genau zu der selbstsicheren Rationalität zu passen, mit der er für sich die Mathematik als Medium der Linguistik entdeckt hatte – meine linguistischen Kollegen in Stanford würden ihm heute entschieden beistimmen. Herwig Krenns Leidenschaft für die Transformationsgrammatik von Chomsky wirkte so authentisch wie seine Liebe für Tennis, Niederössterreich und schnelle Autos. Nicht weniger stark war die Überzeugung der Sprachlehrforscher Bausch und Bonnekamp, dass ein wissenschaftlich fundierter Unterricht des Französischen, Spanischen und Italienischen zu den wichtigsten Voraussetzungen eines weiter wachsenden Europas gehörte.
Vielen Literaturwissenschaftlern lag damals noch an der Linguistik. Das galt zum Beispiel für Karlheinz Stierle, mit dessen schierer Präsenz der durch die "Poetik und Hermeneutik"-Bewegung transformierte Geist Hegels im grauen GB-Gebäude leuchtete und der sich nun auf den Weg zum späten Wittgenstein und den Philosophien der Sprachhandlung gemacht hatte. Alfons Knauths ganz anders perspektivierte Konzentration auf die großen Texte der romanischen Literaturen ermutigte seine Studenten, sich selbst im literarischen Fort-Schreiben zu versuchen, während ich, dem akademischen Lehrlings-Status gerade entronnen, vor allem beeindruckt war von der damals neu aussehenden Einsicht, dass Geschichtsschreibung – auch Literatur-Geschichtsschreibung – als narrative Performanz aufzufassen sei.
Was das Romanische Seminar der Ruhr Universität als Hochburg mit zentrifugaler Energie zusammenhielt, war die gemeinsam erlebte Verpflichtung, allen romanischen Sprachen, Literaturen und Kulturregionen – von Lissabon [oder gar Santiago de Chile] bis Bukarest – in unserer Lehre und unserer "Forschung" Zeit und Bedeutung zu geben. Dies mag wie ein Paradoxon wirken, weil doch die Vielzahl der berücksichtigten romanischen Sprachen und Literaturen eigentlich nur eine weitere Brechung, ja eine Fragmentierung der ohnehin schon zentrifugalen Themen und Tendenzen hätte befördern müssen. Aber hinter der Pluralität stand ja – unter Karl Maurers zugleich strenger wie beweglicher Führung – die eine Überzeugung, dass jede einzelne der zahlreichen romanischen Sprachen und Literaturen unsere eigene und die Aufmerksamkeit der Studenten verdiente.
Heute ist an den meisten deutschsprachigen Universitäten die – im historischen Sinn eminent deutsche – Disziplin der Romanistik in viele "nationalphilologische" Einzelfächer zerbröselt. Zahlreiche intellektuelle Impulse aus der frühen Bochumer Romanistik sind inzwischen einfach verpufft. Andere Positionen hingegen haben sich mit solch institutioneller Stärke etabliert, dass jüngere Generationen sie als "naturgegeben" ansehen und also keinesfalls mehr mit einem historischen Anfang assoziieren. Nie mehr vielleicht ist seither eine romanistische Hochburg mit so viel offenen Brücken und Ausfalltoren entstanden.
Und die Bochumer Studenten aus jener Zeit? Manche von ihnen – vielleicht sogar eine statistisch überraschend große Zahl – sind angesehene Professorinnen und Professoren der Romanistik geworden. An die allermeisten erinnere ich mich allerdings bloß "im Kollektiv", wie man damals – eher stolz auf die für Bochum typische anti-individualistische Tendenz – gesagt hätte: sie waren fleißig, zuverlässig und manchmal zu vorsichtiger Begeisterung fähig. In eine der Bochumer Romanistik-Studentinnen habe ich mich dann plötzlich – während einer Prüfung und auch sonst unter denkbar unpassenden Umständen – für immer verliebt. Doch mit Literaturgeschichte hatte ihre und meine Liebe kaum zu tun, und vielleicht konnte sie deshalb das Fach so mühelos überleben.
Hans Ulrich Gumbrecht